Die Brücke





 

Als ich noch ein kleines Kind war, ging mein Großvater oft mit mir im Weiherwald spazieren. Der Weiherwald war (und ist noch immer) ein mittelgroßes von Seen und Flüssen durchzogenes Waldstück im Karlsruher Stadtteil Weiherfeld, und war von unserem alten Hexenhäuschen aus bequem zu Fuß zu erreichen.

Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als wir eines schönen Sommertags wieder einmal einen unserer Spaziergänge machten und dabei bemerkten, dass die alte, morsche und gefährliche Holzbrücke durch eine funkelnagelneue, dunkelbraun lackierte Holzbrücke ersetzt worden war.

“Schau mal, sie haben die Brücke neu gemacht”, sagte mein Großvater, “komm, das schauen wir uns an!”

Gesagt, getan, zusammen bestaunten wir die neue Brücke und machten langsam uns an den Überweg. Ich sehe ihn noch genau vor mir, als ob es nicht vor 35 Jahren sondern gestern gewesen wäre – meinen Großvater mit seinem braunen Lederhut mit der breiten Krempe und seinem Spazierstock.

Plötzlich hielt er unvermittelt inne. “So eine Sauerei”, entfuhr es ihm, während er auf das breite und wuchtige hölzerne Geländer der Brücke starrte. Dort hatte irgend jemand offensichtlich nicht mehr als wenige Tage zuvor (länger gab es die Brücke noch nicht) ein Hakenkreuz eingeritzt.

Der Grund, dass ich diese Geschichte jetzt aufschreibe, ist, dass ich mich wohl ewig ganz genau daran erinnern werde, was als nächstes passierte. Denn mein Großvater, sonst nicht der übermäßig aktive Mensch, nahm seinen Spazierstock und begann, mit der metallischen Spitze das Hakenkreuz in ein Rechteck mit einem Kreuz darin zu verwandeln.

“Was machst Du denn?” wollte ich wissen.

“Ich mache das Hakenkreuz kaputt”, antwortete mein Großvater.

“Aber warum denn?”

“Das ist ein ganz böses Zeichen. Ein widerliches und gemeines Zeichen”, sagte er, während er mit frenetischem Eifer die Brücke bearbeitete.

“Warum ist das Zeichen böse?” fragte ich.

“Das war das Zeichen der Nazis”, erklärte mein Großvater. “Die Nazis waren ein ganz großer Haufen Schwerverbrecher. Die haben Millionen von Menschen getötet und vertrieben… und einen Krieg veranstaltet in dem noch viel mehr umgekommen sind… und ich beinahe auch…”

“Aber warum hat sie niemand aufgehalten? Warum hat niemand die Polizei gerufen?”

Mein Großvater drehte sich zu mir um und schaute mich ernst an, die Hand noch immer am Spazierstock, mit dem er die Brücke bearbeitete. Schweißperlen rannen an seiner Stirn herunter, und ich werde diesen Blick ebenso wie seine Antwort und alles andere nicht vergessen.

“Die waren die Polizei.”

Ich muss wohl einigermaßen entsetzt geschaut haben, denn mein Großvater fuhr sogleich fort: “Aber das ist lange her. Beinahe vierzig Jahre. Inzwischen ist alles anders.”

“Aber wenn das so lange her ist, warum hat dann jetzt jemand das Zeichen in die Brücke gemacht?” fragte ich.

“Der, der das gemacht hat, ist ganz einfach ein ganz großer Idiot”, sagte mein Großvater, “mehr nicht. Der war nicht dabei, hat es nicht mitgekriegt, hat in der Schule nicht aufgepasst und hat keine Ahnung was das Hakenkreuz wirklich bedeutet.”

Und damit nahm er seinen Spazierstock in die rechte und mich an die linke Hand, und wir setzten unseren Spaziergang fort.

Erst später erfuhr ich, dass mein Großvater zwei Weltkriege miterlebt hatte. Dass er im zweiten Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft geraten war, aus der er 1948 mehr tot als lebendig zurückgekehrt war. Dass er Mitglied in der KPD gewesen war und deshalb an der Front verheizt wurde, dass er später Entschädigung beantragt hatte die ihm nicht bewilligt wurde, weil die KPD in Deutschland inzwischen verboten war. Und so weiter und so fort.

Und natürlich erfuhr ich später auch mehr über die Nazis – von meinem Großvater, im Geschichtsunterricht, in Büchern, in Filmen und an Gedenkstätten.

Tja, und heute bin ich nach langer Zeit wieder einmal an der Brücke vorbeigekommen. Inzwischen gibt es die Holzbrücke nicht mehr, und sie wurde durch ein Bauwerk aus Beton und blau lackiertem Stahl ersetzt, auf dem sich glücklicherweise keine Hakenkreuze befinden. Und irgendwie musste ich beim Überqueren der Brücke – und nachdem “Freiwild” (nee, ich weigere mich, den Bandnamen so zu schreiben wie die Band das gerne hätte) gerade die Teilnahme am “with full force” Festival abgesagt hat und die Band auf ihrer Facebook-Seite das missverstandene Opfer gibt und dafür von hunderten Fans bejubelt wird – daran denken, dass Faschismus keine Meinung ist, sondern ein Verbrechen… und an den Mann, der mir das zum ersten Mal klar machte.

Danke, Großvater.

3 thoughts on “Die Brücke”

  1. Ein starker Moment , wunderbar erzählt. Es ist erstaunlich was wir Menschen im Stande waren als “Recht” anzuerkennen und mitzuspielen, mitzulaufen. Und wir werden es auch wieder sein. In vielen Ecken Deutschlands und anderen Regionen Europas (sicherlich Ungarn und Griechenland) ist das schon zu erkennen, wie Ausländer als Menschen zweiter Klasse angesehen werden und am Besten verschwinden sollten. Und solche Ansichten werden nicht nur von Idioten vertreten, sondern von sehr intelligenten Populisten, die sich der prekären Lage der Menschen und deren “Miss”-Bildung zu Nutze machen. Leider sind wir erst am Anfang dieser Entwicklung. Mit dem Ausbluten Afrikas sehe ich noch viel mehr Menschen die versuchen dem Hunger und Morden in ihrer Heimat zu entrinnen. Europa ist ihr einziger Ausweg…

    Ich mag aber kein Prophet sein und hoffe auf das Beste. Denn das gibt es in uns Menschen auch noch.

  2. DAS sind Erinnerungen an Ereignisse, die prägen und wesentlich zur Charakterbildung beitragen …

    Du warst wieder einmal in Pfalznähe und hast Dich nicht gemeldet?
    Tststs …

    1. Hallo Jürgen, nein, das Posting ist schon lange her… aus dem Februar 2013 um genau zu sein. Leider ist die Reihenfolge hier total durcheinandergekommen, bei dem Versuch, das Blog mittels Plugin zu archivieren…
      Liebe Grüße,
      Stephan

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

üh
﹋=